»... wir haben eine trübe Zeit durchzumachen, nach welcher die Anerkennung wohl erst für die nächste Generation blühen wird. Aber wir haben das unvergleichliche Vergnügen der ersten Erkenntnisse.« (Sigmund Freud an Karl Abraham, Brief vom 2. 1. 1912)
Als Sigmund Freud 1907 in den Briefwechsel mit Karl Abraham eintrat, arbeitete dieser als junger Arzt an der Züricher psychiatrischen Klinik Burghölzli. Durch C. G. Jung war er dort mit der Freudschen Lehre bekannt ge-worden und hatte selbst einige psychoanalytische Aufsätze publiziert, deren Scharfsinn und Originalität Freud auf-gefallen waren. Aus der Diskussion über diese Aufsätze entstand eine nahezu zwei Jahrzehnte, bis zum frühen Tode Abrahams währende freundschaftliche Zusammenarbeit, die sehr bald den anfänglichen Charakter einer Lehrer-Schüler-Beziehung überwand. Neben den über-ragenden intellektuellen Qualitäten scheint Freud an Abraham besonders dessen menschliche Integrität und »unzerstörbare Lebensbereitschaft« geschätzt zu haben. Davon gibt das vorliegende, fast fünfhundert Dokumente umfassende Briefkonvolut beredt Zeugnis. Der Leser er-fährt, mit welcher Anteilnahme Freud die Pläne Abrahams verfolgte, als dieser im Jahre 1908 nach Berlin übersiedelte, sich dort als Psychoanalytiker niederließ, die erste deutsche psychoanalytische Vereinigung gründete und mit unvergleichlichem Mut und zäher Zuversicht versuchte, für die Freudsche Theorie in die Phalanx der klassischen Nervenheilkunde eine Bresche zu schlagen - zu einem Zeitpunkt, da man der Psychoanalyse in Deutschland, sofern man sie. überhaupt zur Kenntnis nahm, mit unverhüllt haßvoller Ablehnung und morali-sierender Entrüstung begegnete. Der Briefwechsel ist aber nicht nur durch die in ihm enthaltenen Lageberichte, die auch die mannigfaltigen Anfechtungen von innen, vor allen Dingen die Differenzen und den endlichen Bruch mit C. G. Jung, sowie die Entwicklung der Psychoanalyse im Ausland kommentieren, ein historisches Dokument ersten Ranges, sondern überdies weil er bedeutsame wissenschaftliche Auseinandersetzungen protokolliert. Dadurch erhält der Leser Gelegenheit, bestimmte psychoanalytische Grundkonzepte und Arbeitshypothesen sozusagen in statu nascendi kennenzulernen und am fesselnden Prozeß ihrer Entdeckung und Erstformulierung teilzunehmen. - »Aber man ist ja nicht allein literarisches und ärztliches Lasstier.« Gemäß diesem Ausspruch Freuds vermittelt der Dialog der beiden Gelehrten nicht zuletzt auch ein farbiges Bild von den Begebenheiten des täglichen Lebens; er schildert u. a. Reiseimpressionen, die Unruhen des Ersten Weltkriegs und in besonders liebe-voll-besorgter Weise familiäre Bewandtnisse und Veränderungen.